Am 13. November 2022 fand in der Aula anlässlich des Volkstrauertages eine Gedenkstunde statt, an der sich sowohl die Chor-AG unter der Leitung von Frau Reurik als auch die Klasse 10a beteiligt haben. Die Chor-AG leistete einen sehr berührenden Beitrag mit dem Lied „Fix you“ der britischen Band Coldplay, während die Schülerinnen und Schüler der 10. Klasse durch eine eindrucksvolle Auseinandersetzung mit dem Antikriegsgedicht „Thränen des Vaterlandes Anno 1636“ einen Bogen zur Gegenwart des Ukraine-Krieges gespannt haben, wie im Folgenden nachzulesen ist:
Anno 1636 – Anno 2022
Als wir uns im Vorfeld dieser Veranstaltung im Unterricht mit dem Volkstrauertag beschäftigt haben, sichteten und diskutierten wir ganz unterschiedliche Texte und stießen dabei auf ein Gedicht aus der Zeit des Barocks: „Thränen des Vaterlandes – Anno 1636“ von Andreas Gryphius. Gryphius hat dieses Antikriegsgedicht angesichts des Schreckens des Dreißigjährigen Krieges, der in Europa wütete, vor mehr als 380 Jahren verfasst. Wir haben uns die Frage gestellt und diskutiert, was uns dieses Gedicht noch heute sagen kann – leider mussten wir feststellen, dass es immer noch von erschreckender Aktualität ist und der Nachsatz „Anno 1636“ auch „Anno 2022“ heißen könnte.
Andreas Gryphius – Thränen des Vaterlandes/ Anno 1636
Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun
Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Karthaun
Hat aller Schweiß, und Fleiß, und Vorrat aufgezehret.
Die Türme stehn in Glut, die Kirch‘ ist umgekehret.
Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,
Die Jungfern sind geschänd’t, und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer, Pest, und Tod, der Herz und Geist durchfähret.
Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut
Von Leichen fast verstopft, sich langsam fort gedrungen.
Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest, und Glut und Hungersnot,
Dass auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.
Für uns Heranwachsende waren der Krieg in Syrien und seit dem 24. Februar diesen Jahres vor allem Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine in den Zeitungen, im Internet und im Fernsehen stets präsent. Jeden Tag hört und liest man von Angriffen auf ukrainische Städte, von Toten und Verwundeten, von Kriegsverbrechen und Flüchtenden, die ihre Heimat verlassen müssen. Ja, man kann mit Gryphius sagen, dass dieses Land „doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret“ ist. Die „donnernde[n] Karthaun[e]“ – also die schweren russischen Geschütze – beschießen Tag und Nacht die Infrastruktur sowie die Häuser der ukrainischen Zivilbevölkerung, so dass viele unschuldige Menschen sterben müssen oder von einem Tag auf den anderen ihrer materiellen Existenz beraubt werden: „Das vom Blut fette Schwert“ hat wahrhaftig „aller Schweiß, und Fleiß, und Vorrat aufgezehret“.
So wie im Dreißigjährigen Krieg stellen auch jetzt die kommende Kälte im Winter sowie der Hunger wichtige Kriegsmittel dar. Die meisten Menschen starben während des Dreißigjährigen Krieges nicht in den Schlachten, sondern an den Folgen des Krieges. Die Äcker waren nach mehreren Jahren des Krieges verlassen, die Bauern geflohen oder gar getötet. Was noch gesät wurde, wurde lange vor der Reife von Trossknechten als Pferdefutter gebraucht oder verbrannt, so dass Getreide und Fleisch unerschwingliche Preise erreichten und viele Menschen hungerten. Auch Russland hat die ukrainische Getreideernte in den besetzten Gebieten annektiert und droht mit einem Boykott des internationalen Abkommens über den Export von ukrainischem Getreide, so dass Millionen Menschen in Afrika, im Nahen Osten und in Südasien von einer künstlich erzeugten Hungerkrise heimgesucht würden. Oftmals sind ebenfalls Krankheiten und Seuchen die Folge. Verbreiteten sich während des Dreißigjährigen Krieges die Pest und andere Seuchen, so stieg z.B. in den letzten Monaten die Gefahr eines Choleraausbruchs in der Stadt Mariupol.
Erschreckend sind außerdem die zahlreichen Kriegsverbrechen der marodierenden russischen Truppen, von denen in den besetzten Gebieten immer wieder berichtet wird. So wie im Dreißigjährigen Krieg der sog. „Schwedentrunk“ als Folterinstrument und die Schändung der „Jungfern“, wie es in Gryphius‘ Gedicht heißt, zum Kriegsalltag gehörten, findet auch heute in den Kriegsgebieten sexuelle Gewalt und Folter statt, wie uns das Beispiel der Besetzung der Stadt Butscha auf grausame Weise vor Augen geführt hat.
Im letzten Terzett seines Gedichts weist Gryphius auf das hin, „was grimmer denn die Pest, und Glut und Hungersnot“ ist: „Dass auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen“. Anno 2022 fordert der Angriffskrieg gegen die Ukraine Millionen von Opfern – das umfasst alle Menschen, die in den letzten Monaten starben oder deren „Seelen Schatz“ durch traumatische Erlebnisse wie den Kriegshandlungen, den körperlichen und seelischen Verwundungen, den Verlust von Verwandten, Freundinnen und Freunden sowie die Vertreibung aus der Heimat geraubt wurde.
Anno 1636 ist gleich Anno 2022. Wir gedenken und betrauern all diese Opfer. Wir wünschen uns ein Europa, in dem wieder Friede und Freiheit herrscht.
Kü