Es war in Prag – irgendwann in den späten Achtzigerjahren. Im Rahmen unsere Oberstufenfahrt besichtigten wir mit unseren Lehrern die Synagoge im jüdischen Ghetto. Der nüchtern gehaltene Gebetsraum enthielt kaum mehr als Kinderbilder, die wie ein bunter Fries die sonst kahlen Wände schmückten. Fast wäre ich gleichgültig an ihnen vorübergegangen, hätte sie als die aus eigener Kindheit sattsam bekannten Kritzeleien von glücklichen Familien, von bunten Blumenwiesen, spielenden Kindern abgetan. Aber die Bilder, sie waren doch mehr: In schroffer Lakonie hatte man die Zeichnungen mit nichts als den Namen und Lebensdaten der Kinder versehen, die diese Bilder gemalt hatten. Und die trafen mich mit brutaler Wucht: In keinem der Kinder hatten sich die ungezählten elterlichen Hoffnungen erfüllen können, die ihnen bei ihrer Geburt mit auf den Lebensweg gegeben worden waren, denn keines der Kinder war älter als 13 Jahre geworden. Sie alle hatten im nahen Konzentrationslager Theresienstadt den Tod gefunden, ermordet von Deutschen, ermordet von Menschen, von denen doch auch so viele eigene Kinder daheim in Deutschland hatten.Wie nächtliche Blitze jäh das Land erhellen, so war für mich der Rassenwahn in seinen monströsen Ausmaßen mit einem Male grell beleuchtet worden, aber nicht nur der, sondern auch das entsetzliche Leiden der Menschen. In den Bildern spiegelten sich nicht nur Kinderwünsche, sondern auch das verzweifelte Bemühen der Eltern, ihren Kinder so lange wie möglich die Augen vor der entsetzlichen Wahrheit zuzuhalten, so lange wie möglich in einer Welt, die längst schon Hölle geworden war, eine freundliche Fassade zu errichten. Auf diese Weise wurde in der Synagoge in Prag angelesenes Buchwissen plötzlich sehr konkret. Das „aschene Haar Sulamiths“ aus Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ rahmte nun ein Kindergesicht.

Was Jahrzehnte zuvor in Prag mit ganz wenigen Mitteln erreicht worden war: das Abstrakte dadurch konkret zu machen, dass man es mit dem Schicksal einiger jüdischer Kinder verwob, ist auch dem Duo NIHZ am Freitag gelungen, dem Abstraktum „Judentum“ zwei junge Gesichter zu leihen. Mit ihm nun waren ganz reale junge Menschen in unsere Mitte getreten. Die beiden hervorragenden Musiker Bobby Rootvelt und Sanna van Elst, deren Erzählungen und Lieder sich um die drei Säulen des Judentums, die Religion, die Geschichte und die Traditionen des jüdischen Volkes rankten, erzählten uns davon, was es bedeutet, als ashkenasischer oder sephardischer Jude einem uralten Volk anzugehören. Sie erzählten von Dingen, die man als „Goj“ für gewöhnlich selten aus eigener Anschauung kennenlernen wird, denn jüdisches Leben haben die Nationalsozialisten in Deutschland  für immer ausgelöscht. Mit ihrem Chanuka-Gebet, ihren temperamentvollen Tänzen und zum Teil in jiddischer Sprache vorgetragenen Liedern entführten sie uns in die bunten jüdische Welt, wobei ihre Musik Bilder des jüdischen Schtetls irgendwo in Galizien oder in der Bukowina genauso heraufbeschworen wie ihre Erzählungen das Leben Amsterdamer Juden in älterer, aber auch jüngster Zeit zeigten. Wir müssen es wohl auch als bitterste Ironie der Geschichte betrachten, dass die hochgebildeten Juden aus dem Osten Europas, zu den größten Bewunderern und auch Trägern deutscher Geisteskultur rechneten, aber das nur am Rande erwähnt. Zum ersten Mal erahne ich nun, dass der Begriff „Judentum“ einen gewaltigen Kontinent bezeichnet,  auf dem alles, was man dort sieht und berührt, von der jahrtausendealten, oftmals grausigen Geschichte dieses Volkes durchtränkt ist und davon künden. So zeugt ein Lied in jiddischer Sprache, in ihr mischen sich hebräische, osteuropäische und sehr viele deutsche Einflüsse, von den erzwungenen Wanderungsbewegungen des jüdischen Volkes. Auch wird vor dem Hintergrund der Geschichte der jüdische Familiensinn überdeutlich klar. Was konnten die oft so machtlosen Menschen denn anderes zu ihrem Schutz aufbieten als ihre Familie, wenn die weltliche Macht wieder einmal versagte, Pogrome geflissentlich übersah oder sich gar selbst daran beteiligte, sie organisierte oder die Menschen schlussendlich in Viehwaggons in die Todeslager brachte?

Aber Bobby Rootveld sprach nicht nur von der Geschichte gewordenen Vergangenheit, sondern zeigte uns auch, dass Judenhass auch heute leider noch immer virulent ist. Natürlich ist das nicht neu, wir erleben immer wieder so etwas wie antisemitische Wandschmierereien oder judenfeindliche Äußerungen, dämliche Witze, hässliche Schmähworte. Da wir aber im Regelfall nicht selbst davon betroffen sind, gehen wir oft sehr schnell, zu schnell, wieder zur Tagesordnung über, bekümmern uns nur an Gedenktagen darum. Wenn man aber gezeigt bekommt, wie Menschen in unserer Mitte nicht so sehr unter den Hassbratzen und Dummköpfen, sondern an unserer Gleichgültigkeit leiden, dann ist wahrscheinlich jetzt die Zeit gekommen,  lieber einmal mehr hinzusehen und uns vor die Menschen zu stellen, die wir schon so oft in unserer Geschichte im Stich gelassen haben.

kie