Am 2. Mai 2017 fand in Kooperation mit der Haupt- und Realschule für die Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 9 und 10 im Rahmen des Geschichtsunterrichts eine Veranstaltung mit der 93-jährigen Zeitzeugin Erna de Vries statt. Erna de Vries, die in Lathen im Emsland lebt, gehört zu den Überlebenden des Holocaust und besucht seit 1998 Schulen, um von ihren Erlebnissen in der Zeit des Nationalsozialismus zu berichten und über den Holocaust aufzuklären. Damit erfüllt sie den Auftrag ihrer im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordeten Mutter: „Du wirst überleben, und dann wirst du erzählen, was man mit uns gemacht hat.“
Nach einer kurzen Vorstellung und einleitenden Worten von Samtgemeindebürgermeisterin Daniela Kösters erzählte Erna de Vries auf sehr eindrucksvolle sowie berührende Weise den anwesenden Schülerinnen und Schülern ihre Lebensgeschichte, die in Kaiserslautern begann, wo sie als Erna Korn geboren wurde. Ernas christlich getaufter Vater verstarb bereits früh, so dass ihr Mutter Jeanette, die Jüdin war, den Speditionsbetreib ihres Mannes alleine weiterführen musste. Ernas durch Ausgrenzung gekennzeichnete Kindheit fand spätestens mit den Ereignissen während des Pogroms am 9. und 10. November 1938 ihr jähes Ende, als man die Wohnung der Familie Korn verwüstete, ihren Speditionsbetrieb „arisierte“ und sie aus ihrer Heimatstadt auswies. Mutter und Tochter flohen zunächst zu Verwandten nach Köln, wo Erna eine Ausbildung in der Krankenpflege machte, um ihre Mutter finanziell zu unterstützten, da die Familie fortan von ihren Ersparnissen leben musste. Im Juli 1943 wurden die damals 19-Jährige und ihre Mutter nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Obwohl die Gestapo gar keinen Deportationsbescheid für die Halbjüdin Erna Korn hatte, flehte sie die Beamten an, ihre Mutter in das ihnen durch die Radiosendungen der BBC bekannte Vernichtungslager begleiten zu dürfen – wohl wissend, was sie dort erwartet.
Es herrschte bei den Anwesenden sehr große Betroffenheit, als Frau de Vries von ihrer Ankunft und den schrecklichen Erlebnissen in Auschwitz berichtete. Nach zwei Monaten wurde sie „selektiert“ und zusammen mit ca. 600 weiteren „arbeitsunfähigen“ Frauen im sogenannten Todesblock 25 untergebracht. In der Gewissheit, am nächsten Tag in den Gaskammern ermordet zu werden, hatte Erna Korn nach einer schrecklichen Nacht nur noch einen Wunsch: „Noch einmal, bevor ich sterbe, wollte ich die Sonne sehen.“ Gerade als sie die ersten Sonnenstrahlen wahrnehmen konnte, hörte sie trotz der Schreie der anderen verzweifelten Frauen, die für die Vergasung zusammengetrieben wurden, die Stimme eines SS-Mannes, der ihre Nummer 50462 rief, die man ihr bei ihrer Ankunft zur Identifikation auf den Arm tätowiert hatte. Der Wachmann verglich die Nummer auf ihrem Arm mit der auf seiner Karteikarte und sagte zynisch: „Du hast mehr Glück als Verstand!“ Somit entkam Erna Korn in buchstäblich letzter Sekunde der Vergasung, da kurz vorher Himmler in Form eines Erlasses verfügt hatte, dass Halbjüdinnen als sogenannte „Mischlinge“ in das Konzentrationslager Ravensbrück verlegt werden sollten, wo sie für die Firma Siemens Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten mussten. Sichtlich schwer war es für Frau de Vries, vom Abschied von ihrer Mutter zu erzählen, die sie vor ihrer Verlegung nach Ravensbrück noch einmal im Lager treffen konnte – es war das letzte Mal, dass Erna ihre Mutter lebend sah. Am 8. November 1943 wurde Jeanette Korn in Auschwitz ermordet.
Da die alliierten Truppen bei Kriegsende immer weiter vorrückten, wurde das Konzentrationslager Ravensbrück im April 1945 geräumt und alle Lagerinsassen auf einem sogenannten „Todesmarsch“ durch Mecklenburg-Vorpommern getrieben, bis sie schließlich von den US-Truppen befreit wurden. Frau de Vries hatte all diese schlimmen Strapazen überlebt und beendete ihre Erzählung mit den Worten: „Dann war ich endlich frei!“
Nach einem langanhaltenden Applaus herrschte zunächst Stille, da die anwesenden Schülerinnen und Schüler sichtlich bewegt waren und einige Augenblicke brauchten, um das soeben Gehörte zu verarbeiten, bevor sie der Zeitzeugin vielfältige Fragen stellen konnten. Hierauf legte Frau de Vries großen Wert, ist es doch ihr wichtigstes Anliegen, den Auftrag ihre Mutter zu erfüllen, indem sie stellvertretend für die Millionen von Opfern gerade jungen Menschen ihre Geschichte erzählt, so dass die Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät und sie für die Gegenwart und Zukunft daraus lernen können.
Auch im zweiten Teil der Veranstaltung betonte Frau de Vries, dass es immer Menschen gab, die sich von dem „braunen Sumpf“ abhoben und ein Zeichen der Menschlichkeit in dieser so unmenschlichen Zeit setzten, indem sie ihr beistanden: sei es durch Mut machende Worte, eine Warnung vor Gefahr oder durch das bloße Tragen eines schweren Koffers.
Am Ende der Veranstaltung kamen Vincent Langius (Klasse 10b) und Paula Sentker (Klasse 10 der Realschule) auf die Bühne und dankten Frau de Vries für ihr Kommen und die sehr beindruckende sowie nachdenklich machende Darstellung ihrer Lebensgeschichte, indem sie ihr ein von Hamide Hasani (Klasse 10b) gemaltes Bild, einen Blumenstrauß sowie einen Scheck mit einer Spende in Höhe von 825 € überreichten. Mit dem Geld möchten die drei Schulen ein Projekt von Israels größter Umweltorganisation „Jüdischer Nationalfonds e.V.“ fördern, die sich u.a. um die Anpflanzung von Bäumen in Israel kümmert und die von Frau de Vries seit Jahren unterstützt wird.
(Christian Kühlenborg)